VERFÜGBAR BIS 29.5.
Mit dem Film „MIR IST ES EGAL, WENN WIR ALS BARBAREN IN DIE GESCHICHTE EINGEHEN“ des rumänischen Regisseurs Radu Jude möchten wir unseren kleinen Schwerpunkt anlässlich der 71. Berlinale fortführen. Für seinen aktuellen Film BABARDEALA CU BUCLUC SAU PORNO BALAMUC wurde er hier dieses Jahr mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, der höchsten Auszeichnung des Festivals. Anlass genug, Euch und Ihnen ein weiteres seiner älteren Werke zu präsentieren. Wer mehr über einen der wichtigsten Gegenwartsregisseure aus Rumänien erfahren möchte, dem empfehlen wir die Videos in der Arte Mediathek und auf der Webseite vom goEast Filmfestival, die unter den weiterführenden Links zu finden sind.
ZUM FILM:
Die junge Regisseurin Mariana Marin plant eine groß angelegte, radikale Theateraufführung zu Rumäniens Beteiligung am Holocaust. Unter General Antonescu wurde der massive Antisemitismus in der rumänischen Gesellschaft zur offiziellen Vernichtungspolitik erklärt, seine Rolle und die seiner Regierung im Zweiten Weltkrieg wird aber bis heute glorifiziert. Vom damaligen Massenmord will niemand mehr etwas wissen. Mit einem Reenactment der damaligen Ereignisse soll das Theaterstück das Publikum aufrütteln, doch bereits vor der Premiere zeigen sich zahlreiche Probleme: Es gibt Unmut unter den Komparsen, ein Abgesandter der Stadtregierung möchte das Stück zensieren und auch in Marianas Privatleben läuft nicht alles glatt. Die als Weckruf konzipierte Performance gerät Schritt für Schritt zur Farce …
Radu Judes neuer Spielfilm findet einen ganz eigenen Ton für ein schwieriges Thema: die selektive Erinnerungspolitik im heutigen Europa. Zwischen Realität und Fiktion, zwischen dem Blick in moralische Abgründe und einer ironischen Leichtigkeit gelingt ihm eine facettenreiche Reflexion über Geschichtsvergessenheit. Ein Film, der auch das Scheitern von politischer Kunst thematisiert – und dabei als politisches Kunstwerk brilliert.
GESCHICHTSENGEL WIDER DEM VERGESSEN
von Patrick Holzapfel
Es ist nun wahrlich keine besonders neuartige Erkenntnis, dass uns Geschichte immer gefiltert, beschnitten und manipuliert erreicht. Alles was an ihr wie in Stein gemeißelt scheint, ist in Wahrheit beweglich, ungenau und variabel. Jede Geschichtsstunde ist ideologisch geprägt, alle Quellen erzählen von hundert anderen nicht bedachten Zeugnissen. Mit Häufigkeit ignoriert das Kino die daraus resultierende Vorsicht im Umgang mit historischen Gegebenheiten. Es müssen eben Illusionen geschaffen werden, damit man träumen kann. Damit wagt die siebte Kunst einen gefährlichen Schulterschluss mit populistischer Politik. Sie erklärt eine Version der Geschichte zur Wahrheit. Alles andere wird verdrängt und letztlich vergessen.
Aber es gibt Widerständige im Kampf gegen das Vergessen. Beinahe jedes Land bringt zumindest eine Kinostimme hervor, die sich zum Chronisten der verdrängten Geschichte emporhebt. Mal aus eigenem Antrieb, mal von der Kritik in diese Rolle gesteckt, erzählen diese Filmemacher andere Geschichten; jene von Außenseitern, von Grausamkeiten hinter Staatslügen, vom beschämten Schweigen über den Verbrechen der Geschichte. Für Rumänien, ein Land dessen turbulente Geschichte nicht mal im Ansatz zur Ruhe gekommen ist, hat sich in seinen letzten fünf Arbeiten Radu Jude als solch ein Chronist etabliert. Ein Chronist, der nicht nur eine andere Geschichte offenlegt, sondern die Realität seiner Perspektive auf die Geschichte selbst hinterfragt. Seine bislang fulminanteste, inspirierendste und aggressivste Arbeit zur Unmöglichkeit der Geschichtsschreibung ist "MIR IST ES EGAL, WENN WIR ALS BARBAREN IN DIE GESCHICHTE EINGEHEN".
In der von vielsagender Literatur nur so wimmelnden Wohnung der Theaterregisseurin und Protagonist Mariana Marin findet sich auch das Buch The Crime and the Silence von Anna Bikont. Darin geht es um das polnische Massaker an Juden in Jedwabne 1941. Die Autorin vergegenwärtigt dieses Ereignis mit einer Mischung aus historischen Berichten und einem Recherchejournal. Um eine inhaltlich und strukturell verwandte Vergegenwärtigung geht es auch in Judes Film. Der Titel geht zurück auf ein Zitat von Ion Antonescu aus dem Jahr 1941. Der „Staatsführer“ Rumäniens während des Zweiten Weltkriegs war einer der Hauptverantwortlichen für die ethnischen Säuberungen und Massaker an Juden und Roma in Rumänien. Es ist ein Kapitel der Geschichte, über dem lange Zeit ein Mantel des Schweigens hing, auch weil Antonescu eine postsozialistische Rehabilitierung erfuhr. Jude filmt in mal scheinbar dokumentarischen und mal hochfiktionalen Sequenzen, den Versuch von Mariana subversiv diese Verbrechen an den Juden in eine Performance zu integrieren, die sich auf einem Stadtplatz mit der rumänischen Geschichte auseinandersetzen soll. Er filmt ihre Recherche, ihre enthusiastisch gegen die Windmühlen anrennende Arbeit mit den Darstellern und schließlich die Performance selbst.
Recht selten begegnet man neuen Spielformen des politischen Kinos. Meist werden nur altbekannte Strategien aufgewärmt. Mit AFERIM!, VERNARBTE HERZEN und THE DEAD NATION hat Jude verschiedenartige Formen gefunden, den (nicht nur) geschichtlichen Anti-Semitismus und Rassismus Rumäniens sichtbar zu machen. Dabei lässt er stets sein Material sprechen, tritt als beinahe unsichtbarer Autor hinter die eigene Recherche zurück und setzt die Arbeit mit der Geschichte und ihren Quellen in den Fokus. Jude filmt den Diskurs als wäre er die Geschichte selbst. Dadurch legt er den Prozess der Geschichtsschreibung offen und vermag hinter die Vermittlung direkt in die Wunden der Verdrängung zu schauen. Seine Filme hängen auf halbem Weg zwischen Repräsentation und Dekonstruktion. Es geht ihm um die Arbeit an der Vergegenwärtigung. Darin findet dann sowohl die Repräsentation statt als auch deren Brechung in ein Jetzt.
So ist auch "MIR IST ES EGAL, WENN WIR ALS BARBAREN IN DIE GESCHICHTE EINGEHEN" eine Echokammer, gespeist mit Zitaten und filmischen oder fotografischen Quellen. Beispiele dafür sind heroisch-nationale Bilder der Befreiung Odessas (dort, wo das Massaker an Juden stattgefunden hat), ein propagandistischer Film von Sergiu Nicolaescu, antisemitische Sprüche auf Plakaten oder Texte von Giorgio Agamben, Isaac Babel sowie von Antonescu selbst. Beim Abarbeiten an der Geschichte fallen Späne auf den Boden, die von der Gegenwart in der Geschichte erzählen. Es gibt hier eine Warnung, eine Verzweiflung und eine dringliche Souveränität der Argumente. In der Begegnung mit der Geschichte gibt es eine oberflächliche Ebene, jene der Nostalgie, der Klischees, der Ästhetik, der vorgeschobenen Genauigkeit, des beiläufigen Humors und sich zunickenden Konsens, und sie trifft in diesem Film auf eine aufrichtige Ebene, eine des Nachfragens, des Nicht-Glaubens, der Neugier, des Wissens, des Aufzeigens. Im Kino wird dieser Konflikt oft im Gegenüber aus „authentischer“ Repräsentation und analytischer Brechung verhandelt. Dieser so relevante Konflikt schlägt im vernarbten Herzen von "MIR IST ES EGAL, WENN WIR ALS BARBAREN IN DIE GESCHICHTE EINGEHEN" und entfesselt anhand der jungen Theaterregisseurin Mariana ein Kaleidoskop aus Verklärung, Aufklärung, Ignoranz und Idealismus.
In bisweilen komischen und schockierenden Szenen trifft die in ihrer trotzigen Lässigkeit bewundernswerte Regisseurin früh auf Zweifelnde, Kritisierende und Rückgratlose. Sie hat eine idealistische, moralische, nach Wahrheit suchende Ausrichtung, aber die Mitarbeiter wollen nur ein bisschen Geld verdienen. Selten hat man die Farce und das Loch, das sich zwischen einem relevanten Vorhaben und der Rezeption beziehungsweise Arbeit daran auftut so schmerzvoll gesehen. Am Ende dann findet man sich in einer Präsenz, die es so sehr selten gibt in historischen Filmen. Mit offensichtlich niedrigerer Bildqualität filmt Jude die Performance am Stadtplatz. Es wirkt so, als wäre es eine Live-Mitfilmung. Die Kamera zeigt die Gesichter der Zusehenden und man ist sich nicht sicher, ob es sich um Statisten handelt oder Menschen, die tatsächlich dem historischen Schauspiel beiwohnten. Jude findet dadurch einen Weg, die Denkprozesse zu einem puren Filmerlebnis werden zu lassen, seinen Film denken zu lassen.
Der Film gibt sich nicht mit einer bloßen Wiedergabe der unter den Teppich gekehrten Realitäten zufrieden. Schließlich hängt unweit des Tisches mit dem Buch in der Wohnung Marianas auch Paul Klees "Angelus Novus" an der Wand. Der ehemalige Besitzer des Bildes, Walter Benjamin, schrieb darüber: „Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Patrick Holzapfel arbeitet als Autor, Filmemacher und freier Kurator. Im Jahr 2016 erhielt er das Siegfried- Kracauer-Stipendium vom Verband der deutschen Filmkritik. Er ist Gründer und Chefredakteur des Blogs Jugend ohne Film.
VERFÜGBAR BIS 29.5.
Mit dem Film „MIR IST ES EGAL, WENN WIR ALS BARBAREN IN DIE GESCHICHTE EINGEHEN“ des rumänischen Regisseurs Radu Jude möchten wir unseren kleinen Schwerpunkt anlässlich der 71. Berlinale fortführen. Für seinen aktuellen Film BABARDEALA CU BUCLUC SAU PORNO BALAMUC wurde er hier dieses Jahr mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, der höchsten Auszeichnung des Festivals. Anlass genug, Euch und Ihnen ein weiteres seiner älteren Werke zu präsentieren. Wer mehr über einen der wichtigsten Gegenwartsregisseure aus Rumänien erfahren möchte, dem empfehlen wir die Videos in der Arte Mediathek und auf der Webseite vom goEast Filmfestival, die unter den weiterführenden Links zu finden sind.
ZUM FILM:
Die junge Regisseurin Mariana Marin plant eine groß angelegte, radikale Theateraufführung zu Rumäniens Beteiligung am Holocaust. Unter General Antonescu wurde der massive Antisemitismus in der rumänischen Gesellschaft zur offiziellen Vernichtungspolitik erklärt, seine Rolle und die seiner Regierung im Zweiten Weltkrieg wird aber bis heute glorifiziert. Vom damaligen Massenmord will niemand mehr etwas wissen. Mit einem Reenactment der damaligen Ereignisse soll das Theaterstück das Publikum aufrütteln, doch bereits vor der Premiere zeigen sich zahlreiche Probleme: Es gibt Unmut unter den Komparsen, ein Abgesandter der Stadtregierung möchte das Stück zensieren und auch in Marianas Privatleben läuft nicht alles glatt. Die als Weckruf konzipierte Performance gerät Schritt für Schritt zur Farce …
Radu Judes neuer Spielfilm findet einen ganz eigenen Ton für ein schwieriges Thema: die selektive Erinnerungspolitik im heutigen Europa. Zwischen Realität und Fiktion, zwischen dem Blick in moralische Abgründe und einer ironischen Leichtigkeit gelingt ihm eine facettenreiche Reflexion über Geschichtsvergessenheit. Ein Film, der auch das Scheitern von politischer Kunst thematisiert – und dabei als politisches Kunstwerk brilliert.
GESCHICHTSENGEL WIDER DEM VERGESSEN
von Patrick Holzapfel
Es ist nun wahrlich keine besonders neuartige Erkenntnis, dass uns Geschichte immer gefiltert, beschnitten und manipuliert erreicht. Alles was an ihr wie in Stein gemeißelt scheint, ist in Wahrheit beweglich, ungenau und variabel. Jede Geschichtsstunde ist ideologisch geprägt, alle Quellen erzählen von hundert anderen nicht bedachten Zeugnissen. Mit Häufigkeit ignoriert das Kino die daraus resultierende Vorsicht im Umgang mit historischen Gegebenheiten. Es müssen eben Illusionen geschaffen werden, damit man träumen kann. Damit wagt die siebte Kunst einen gefährlichen Schulterschluss mit populistischer Politik. Sie erklärt eine Version der Geschichte zur Wahrheit. Alles andere wird verdrängt und letztlich vergessen.
Aber es gibt Widerständige im Kampf gegen das Vergessen. Beinahe jedes Land bringt zumindest eine Kinostimme hervor, die sich zum Chronisten der verdrängten Geschichte emporhebt. Mal aus eigenem Antrieb, mal von der Kritik in diese Rolle gesteckt, erzählen diese Filmemacher andere Geschichten; jene von Außenseitern, von Grausamkeiten hinter Staatslügen, vom beschämten Schweigen über den Verbrechen der Geschichte. Für Rumänien, ein Land dessen turbulente Geschichte nicht mal im Ansatz zur Ruhe gekommen ist, hat sich in seinen letzten fünf Arbeiten Radu Jude als solch ein Chronist etabliert. Ein Chronist, der nicht nur eine andere Geschichte offenlegt, sondern die Realität seiner Perspektive auf die Geschichte selbst hinterfragt. Seine bislang fulminanteste, inspirierendste und aggressivste Arbeit zur Unmöglichkeit der Geschichtsschreibung ist "MIR IST ES EGAL, WENN WIR ALS BARBAREN IN DIE GESCHICHTE EINGEHEN".
In der von vielsagender Literatur nur so wimmelnden Wohnung der Theaterregisseurin und Protagonist Mariana Marin findet sich auch das Buch The Crime and the Silence von Anna Bikont. Darin geht es um das polnische Massaker an Juden in Jedwabne 1941. Die Autorin vergegenwärtigt dieses Ereignis mit einer Mischung aus historischen Berichten und einem Recherchejournal. Um eine inhaltlich und strukturell verwandte Vergegenwärtigung geht es auch in Judes Film. Der Titel geht zurück auf ein Zitat von Ion Antonescu aus dem Jahr 1941. Der „Staatsführer“ Rumäniens während des Zweiten Weltkriegs war einer der Hauptverantwortlichen für die ethnischen Säuberungen und Massaker an Juden und Roma in Rumänien. Es ist ein Kapitel der Geschichte, über dem lange Zeit ein Mantel des Schweigens hing, auch weil Antonescu eine postsozialistische Rehabilitierung erfuhr. Jude filmt in mal scheinbar dokumentarischen und mal hochfiktionalen Sequenzen, den Versuch von Mariana subversiv diese Verbrechen an den Juden in eine Performance zu integrieren, die sich auf einem Stadtplatz mit der rumänischen Geschichte auseinandersetzen soll. Er filmt ihre Recherche, ihre enthusiastisch gegen die Windmühlen anrennende Arbeit mit den Darstellern und schließlich die Performance selbst.
Recht selten begegnet man neuen Spielformen des politischen Kinos. Meist werden nur altbekannte Strategien aufgewärmt. Mit AFERIM!, VERNARBTE HERZEN und THE DEAD NATION hat Jude verschiedenartige Formen gefunden, den (nicht nur) geschichtlichen Anti-Semitismus und Rassismus Rumäniens sichtbar zu machen. Dabei lässt er stets sein Material sprechen, tritt als beinahe unsichtbarer Autor hinter die eigene Recherche zurück und setzt die Arbeit mit der Geschichte und ihren Quellen in den Fokus. Jude filmt den Diskurs als wäre er die Geschichte selbst. Dadurch legt er den Prozess der Geschichtsschreibung offen und vermag hinter die Vermittlung direkt in die Wunden der Verdrängung zu schauen. Seine Filme hängen auf halbem Weg zwischen Repräsentation und Dekonstruktion. Es geht ihm um die Arbeit an der Vergegenwärtigung. Darin findet dann sowohl die Repräsentation statt als auch deren Brechung in ein Jetzt.
So ist auch "MIR IST ES EGAL, WENN WIR ALS BARBAREN IN DIE GESCHICHTE EINGEHEN" eine Echokammer, gespeist mit Zitaten und filmischen oder fotografischen Quellen. Beispiele dafür sind heroisch-nationale Bilder der Befreiung Odessas (dort, wo das Massaker an Juden stattgefunden hat), ein propagandistischer Film von Sergiu Nicolaescu, antisemitische Sprüche auf Plakaten oder Texte von Giorgio Agamben, Isaac Babel sowie von Antonescu selbst. Beim Abarbeiten an der Geschichte fallen Späne auf den Boden, die von der Gegenwart in der Geschichte erzählen. Es gibt hier eine Warnung, eine Verzweiflung und eine dringliche Souveränität der Argumente. In der Begegnung mit der Geschichte gibt es eine oberflächliche Ebene, jene der Nostalgie, der Klischees, der Ästhetik, der vorgeschobenen Genauigkeit, des beiläufigen Humors und sich zunickenden Konsens, und sie trifft in diesem Film auf eine aufrichtige Ebene, eine des Nachfragens, des Nicht-Glaubens, der Neugier, des Wissens, des Aufzeigens. Im Kino wird dieser Konflikt oft im Gegenüber aus „authentischer“ Repräsentation und analytischer Brechung verhandelt. Dieser so relevante Konflikt schlägt im vernarbten Herzen von "MIR IST ES EGAL, WENN WIR ALS BARBAREN IN DIE GESCHICHTE EINGEHEN" und entfesselt anhand der jungen Theaterregisseurin Mariana ein Kaleidoskop aus Verklärung, Aufklärung, Ignoranz und Idealismus.
In bisweilen komischen und schockierenden Szenen trifft die in ihrer trotzigen Lässigkeit bewundernswerte Regisseurin früh auf Zweifelnde, Kritisierende und Rückgratlose. Sie hat eine idealistische, moralische, nach Wahrheit suchende Ausrichtung, aber die Mitarbeiter wollen nur ein bisschen Geld verdienen. Selten hat man die Farce und das Loch, das sich zwischen einem relevanten Vorhaben und der Rezeption beziehungsweise Arbeit daran auftut so schmerzvoll gesehen. Am Ende dann findet man sich in einer Präsenz, die es so sehr selten gibt in historischen Filmen. Mit offensichtlich niedrigerer Bildqualität filmt Jude die Performance am Stadtplatz. Es wirkt so, als wäre es eine Live-Mitfilmung. Die Kamera zeigt die Gesichter der Zusehenden und man ist sich nicht sicher, ob es sich um Statisten handelt oder Menschen, die tatsächlich dem historischen Schauspiel beiwohnten. Jude findet dadurch einen Weg, die Denkprozesse zu einem puren Filmerlebnis werden zu lassen, seinen Film denken zu lassen.
Der Film gibt sich nicht mit einer bloßen Wiedergabe der unter den Teppich gekehrten Realitäten zufrieden. Schließlich hängt unweit des Tisches mit dem Buch in der Wohnung Marianas auch Paul Klees "Angelus Novus" an der Wand. Der ehemalige Besitzer des Bildes, Walter Benjamin, schrieb darüber: „Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Patrick Holzapfel arbeitet als Autor, Filmemacher und freier Kurator. Im Jahr 2016 erhielt er das Siegfried- Kracauer-Stipendium vom Verband der deutschen Filmkritik. Er ist Gründer und Chefredakteur des Blogs Jugend ohne Film.