Ken Loach

* 1936 Nuneaton, Warwickshire, England
Ken Loach ist einer der bedeutendsten britischen Filmregisseure. Ein außergewöhnliches Kino-Phänomen in Zeiten von Blockbustern und Superhelden, ist er in seiner langen und bemerkenswerten Karriere sich selbst und seinen linken Idealen immer treu geblieben. Seine vom Leben geschriebenen und eindringlich erzählten Geschichten gehen ans Herz ohne rührselig zu sein, manchmal sind sie auch komisch, aber immer sind sie realistische Gesellschaftsaufnahmen. Seine Aufmerksamkeit gilt Menschen am Rande der Gesellschaft, die um ihr Glück kämpfen müssen. Er versteht sich als Chronist und Ankläger sozialer und politischer Missstände und hält die Kamera auf die, die man überall sieht, aber nicht wahrnimmt. Ken Loachs Filme wirken authentisch und sind gleichermaßen politisch, parteiisch und persönlich. Kenneth Charles Loach wurde am 17. Juni 1936 in Nuneaton in der englischen Grafschaft Warwickshire geboren. Der Sohn einer Friseurin und eines Elektrikers besuchte das Gymnasium in Nuneaton und studierte als eines der wenigen Arbeiterkinder in Oxford Jura, wo er Präsident der Dramatic Society war. Nach der Universität verfolgte er kurzzeitig eine Schauspielkarriere, bevor er sich dem Regiefach zuwandte. 1961 trat er dem Northampton Repertory Theatre als Regieassistent bei und wechselte 1963 zur BBC als angehender Fernsehregisseur. Loachs erste Regiearbeit war das 30-minütige Drama CATHERINE (1964) – eine Episode der TV-Serie TELETALES. 1964 führte er auch Regie bei der Serie Z-CARS (BBC, 1962-78) und bei DIARY OF A YOUNG MAN (BBC, 1964), die ihm Möglichkeiten aufzeigten, den Film aus dem Studio und auf die Straße zu bringen. Darin verwendete er auch nicht-naturalistische Elemente, wie zu Musik geschnittene Standbildsequenzen und eine erzählende Off-Stimme, um eine neue Art von erzählendem Drama zu entwickeln. Ken Loach sollte einige dieser Innovationen in seine Episoden von THE WEDNESDAY PLAY einfließen lassen (BBC, 1965-1969). Von den sechs WEDNESDAY PLAYS, die Loach 1965 inszenierte, war UP THE JUNCTION wegen seines elliptischen Stils und der Einbeziehung einer umstrittenen Abtreibungssequenz das bahnbrechendste. Im folgenden Jahr festigte CATHY COME HOME (1966) den dokumentarischen Ansatz von UP THE JUNCTION und begründete Loachs Ruf für sozialrealistische Dramen. CATHY COME HOME, in dem ein junges Paar unverschuldet arbeitslos und obdachlos wird und deshalb die gemeinsamen Kinder weggeben muss, deckte Obdachlosigkeit als soziales Problem zu einer Zeit auf, als die Medien mit der hedonistischen Fantasie der „Swinging Sixties“ beschäftigt waren und erregte landesweites Aufsehen. Sein Kinodebüt POOR COW (1967) mit Carol White in der Hauptrolle als eine etwas unbeholfenere Variante ihrer Cathy-Figur, war ein Film des Übergangs, der einige stilistische Innovationen und die extra-diegetische Musik von UP THE JUNCTION und CATHY COME HOME beibehielt, aber gleichzeitig den sozialrealistischen Stil weiterentwickelte, der zu Ken Loachs Markenzeichen werden sollte. Mehrere Personen waren maßgeblich daran beteiligt, dass Ken Loach in den späten Sechzigern zu seinem Stil und zu seinen Themen fand. Einer von ihnen war Tony Garnett, mit dem Loach an UP THE JUNCTION, CATHY COME HOME, IN TWO MINDS und seinen letzten beiden WEDNESDAY PLAYS arbeitete: THE GOLDEN VISION (BBC, 1968) und THE BIG FLAME (BBC, 1969). In diesen Fernsehdramen entwickelte Loach einen naturalistischen Stil, der in seinem zweiten Spielfilm, KES (1969), den Garnett produzierte, seinen vollendeten Ausdruck fand. KES wurde von Barry Hines nach seinem Roman adaptiert und erzählt in der nordenglischen Bergwerksstadt Barnsley die Geschichte des sensiblen Teenagers Billy, der nur bei der Ausbildung eines Turmfalken ein Gefühl der persönlichen Erfüllung erlebt. Ein berührendes Entwicklungsdrama und ein Meisterwerk des sozialrealistischen britischen Kinos. Der Kameramann Chris Menges entwickelte zusammen mit Loach einen eher beobachtenden Stil, der Improvisationen und den Einsatz von Laiendarstellern erlaubte. KES war ein Erfolg bei Kritik und Publikum, dem sein nächster Film FAMILY LIFE (1971), eine Neubearbeitung von IN TWO MINDS, nicht zuteilwurde. Angesichts einer rückläufigen britischen Filmindustrie verbrachte Ken Loach den größten Teil der 1970er Jahre damit, für das Fernsehen zu arbeiten und realisierte eine Reihe ungemein radikaler politischer Filme. Als bekennendem Trotzkisten machte ihm das politische Klima in den 1970er Jahren und vor allem in der Thatcher-Ära das Leben und die Arbeit schwer. Die 1980er Jahre begann Ken Loach mit zwei Filmen nach dem Drehbuch von Barry Hines, THE GAMEKEEPER (1980) und LOOKS AND SMILES (1981), letzterer erhielt auch einen begrenzten Kinostart. Garnett hatte sich (vorübergehend) nach Amerika begeben, und Loach gab zu, dass er zur Zeit des in Großbritannien stattfindenden Rechtsrucks Schwierigkeiten hatte, Geld für seine Filme aufzutreiben: „Ich glaube, ich hatte mich ein wenig verirrt – und den Kontakt zur rauen Energie der Projekte, die wir Mitte der sechziger Jahre gemacht hatten, und zu KES verloren. Die Filme, die ich machte, waren nicht eindringlich genug. Ich hatte nicht die richtigen Projekte und nicht die richtigen Ideen. Und deshalb habe ich es mit Dokumentarfilmen versucht, nachdem die große politische Veränderung in Großbritannien stattgefunden hatte.“ Aber auch bei Dokumentarfilmen stieß Loach auf Probleme mit der politischen Zensur, so wurde etwa die vierteilige Serie über die Gewerkschaften QUESTIONS OF LEADERSHIP (1983), die von Channel Four in Auftrag gegeben wurde, nicht gezeigt. Einer der wenigen Spielfilme, die Loach in den 1980er Jahren realisieren konnte, war der eher literarisch gehaltene FATHERLAND (1986). Erst 1990, mit GEHEIMPROTOKOLL, einem in Nordirland angesiedelten Politthriller über die „Shoot-to-kill“-Politik der britischen Armee, erreichte Loach wieder die Kraft und Schärfe seiner früheren Arbeiten. Es folgte der ebenfalls erfolgreiche RIFF-RAFF (1991), der erste einer Reihe von Filmen, die von Sally Hibbins Parallax Pictures produziert und von Barry Ackroyd fotografiert wurden. Ken Loach begründete eine bemerkenswerte Renaissance seiner Karriere und konnte neben Jim Allen, der GEHEIMPROTOKOLL, RAINING STONES (1993) und LAND AND FREEDOM (1995) verfasste, mit einer neuen Generation von linksgerichteten Schriftstellern zusammenarbeiten, darunter Bill Jesse (RIFF-RAFF), Rona Munro (LADYBIRD, LADYBIRD, 1994), Paul Laverty (CARLA'S SONG, 1996, MY NAME IS JOE, 1998 u. a.) und Rob Dawber (GESCHICHTEN VON DEN GLEISEN, 2001). In den 2000er Jahren setzte Ken Loach sein filmisches Werk fort, in dem er die sozialen Ungleichheiten der britischen Gesellschaft und, allgemeiner, den Liberalismus anprangerte. Mit einer Ausnahme entstanden alle Spielfilme wieder nach Drehbüchern von Paul Laverty. In BREAD AND ROSES (2000) erzählt Loach von den Arbeitsbedingungen der Einwanderer in den Vereinigten Staaten. GESCHICHTEN VON DEN GLEISEN (2001) schildert er den Kampf der Bahnarbeiter gegen die Privatisierung des britischen Schienennetzes. SWEET SIXTEEN (2002) handelt von der Beziehung eines Teenagers zu seiner Mutter und beleuchtet die Desillusionierung junger Menschen in schottischen Armenvierteln. In AE FOND KISS (2004) beleuchtet Loach die schwierige Akzeptanz eines Paares, das zwei verschiedenen ethnischen Gemeinschaften angehört. Im Mai 2006 gewann Ken Loach die Goldene Palme in Cannes für THE WIND THAT SHAKES THE BARLEY, ein politisch-historisches Drama über den Irischen Unabhängigkeitskrieg und den sich anschließenden Irischen Bürgerkrieg in den 1920er Jahren. Wie GEHEIMPROTOKOLL zuvor, wurde der Film kritisiert, weil er angeblich zu viel Sympathie für die Irisch-Republikanische Armee und die Provisorische Irisch-Republikanische Armee aufbrachte. Über den Versuch einer Frau, einen Vermittlungsdienst für Immigranten in London zu etablieren zeigt IT'S A FREE WORLD (2007) auf, wie die Ausbeutungsverhältnisse des Kapitalismus den ökonomischen Druck an die jeweils Schwächeren weitergeben. ROUTE IRISH (2010) schildert die Suche eines Sicherheitsunternehmers im Irak nach der wahren Ursache für den Tod seines Freundes, und ANGEL’S SHARE – EIN SCHLUCK FÜR DIE ENGEL (2012), der in Cannes den Jury-Preis erhielt, erzählt die komödiantische Geschichte eines jungen Glasgower Hooligans, dessen Nase für schottischen Whisky ihn dazu inspiriert, ein teures Fass zu stehlen. Mit JIMMY'S HALL (2014), einem seiner hoffnungsvollsten Filme überhaupt, kehrt Ken Loach nach Irland zurück und schildert die wahre Geschichte des irischen Sozialisten Jimmy Gralton, der 1920 für zehn Jahre in die USA ins Exil gehen musste. Zurück in der ländlichen Heimat will er ein Gemeindezentrum aufbauen. 2016 gewinnt Ken Loach mit ICH, DANIEL BLAKE zum zweiten Mal die Goldene Palme in Cannes. Er erzählt darin – mit Analogien zu CATHY COME HOME – die Geschichte des 59-jährigen Schreiners Daniel Blake und der jungen alleinerziehenden Katie, die sich im Jobcenter von Newcastle kennenlernen, zu Freunden und gegenseitigen Schutzengeln werden, und gemeinsam gegen die Windmühlen eines kaltherzigen Sozialapparats kämpfen. In seinem bislang letzten Film SORRY WE MISSED YOU (2019) beschreibt Ken Loach die Selbstausbeutung eines Paketboten im Geschäftsmodell der Gig-Ökonomie und stellt wütend die Frage nach dem Wert eines Menschen. Arbeiter sind hier kleine Ich-AGs – oder Tagelöhner, sondern „eine anonyme Menge aus Einzelkämpfern, Konkurrenten und abgründig Fremden. Für Ken Loach ist das Kapitalismus in seiner rohesten Form. Er macht den Menschen zu Waren und produziert eine Verlassenheit, für die allein das Kino noch große Erzählungen hat.“ (Thomas Assheuer). Nur wenige Regisseure waren in ihren Themen und ihrem filmischen Stil so konsequent und in ihrer Politik so prinzipienfest wie Ken Loach in seiner mittlerweile sechs Jahrzehnte umspannenden Karriere. Dem sozialen Realismus die Treue haltend, entsteht „die Schönheit seines Kinos aus der Aufmerksamkeit für die Figuren, aus seinem inständigen Blick. Loach schenkt ihnen die Zeit, die sie füreinander nicht haben, und ein Bewusstsein ihrer Misere schenkt er ihnen auch. Das Ergebnis ist ein tiefer Humanismus und manchmal eine verborgene Utopie. (Thomas Assheuer). Ken Loach hat wiederholt die wichtigsten Preise der Filmbranche gewonnen und wurde mehrfach für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Filmografie (Auswahl): 1964: CATHERINE (TV) 1965: UP THE JUNCTION (TV) 1966: CATHY COME HOME (TV) 1967: POOR COW – GEKÜSST UND GESCHLAGEN 1969: KES 1972: FAMILY LIFE 1977: LOOKS AND SMILES 1979: BLACK JACK, DER GALGENVOGEL 1980: THE GAMEKEEPER 1986: VATERLAND 1990: GEHEIMPROTOKOLL 1991: RIFF-RAFF 1993: RAINING STONES 1994: LADYBIRD LADYBIRD 1995: LAND AND FREEDOM 1996: CARLA’S SONG 1996: DIE DOCKER VON LIVERPOOL 1998: MEIN NAME IST JOE 2000: BROT UND ROSEN 2001: GESCHICHTEN VON DEN GLEISEN 2002: SWEET SIXTEEN 2003: AE FOND KISS 2006: THE WIND THAT SHAKES THE BARLEY 2007: IT’S A FREE WORLD 2009: LOOKING FOR ERIC 2012: ANGEL’S SHARE – EIN SCHLUCK FÜR DIE ENGEL 2014: JIMMY’S HALL 2016: ICH, DANIEL BLAKE 2019: SORRY WE MISSED YOU